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Köln.Sport

Die Tour des Leidens

Die Tour de France gilt als die härteste Rundfahrt der Welt. Wie hart sie wirklich ist, weiß der Kölner Radprofi Nils Politt, der am Wochenende bei „Rund um Köln“ an den Start geht.
Nils Politt

Seit 2016 tritt Politt für das UCI World Team Katusha in die Pedale, für das er 2017 seine erste Tour de France bestritt (Foto: Getty Images)

Vor rund sechs Jahren war der Name Nils Politt nur Insidern bekannt. Der damals 18-Jährige fuhr für den Kölner Radsportverein Komet-Delia 09. Sein Talent, vor allem im Zeitfahren, blitzte aber schon damals auf. 2012 wurde der gebürtige Kölner deutscher Vizemeister (U19) im Einzelzeitfahren, Zweiter beim Eintagesrennen „Köln-Schuld-Frechen“ und gemeinsam mit Namensvetter Nils Schomber Deutscher Juniorenmeister im Zweier-Mannschaftsfahren.

Fünf Jahre später ist Nils Politt am vorläufigen Ziel seiner Träume angekommen und bekommt einen Startplatz bei der Tour de France, dem populärsten und gleichzeitig härtesten Radrennen der Welt. Vier Länder, 21 Etappen, 3.540 Kilometer, Durchschnittsgeschwindigkeit über 40 km/h – kurz gesagt: Die ultimative Herausforderung! „Die sportlichen Leiter teilten mir letztes Jahr im Januar mit, dass ich Chancen hätte, die Tour de France zu fahren. Von diesem Zeitpunkt an war ich bis in die Haarspitzen motiviert. Schließlich bietet sich die Gelegenheit, dass dieses Toprennen in Deutschland beginnt, vermutlich nur einmal in der Karriere“, erinnert sich Politt an die Monate vor der Tour, die 2017 nur einen Katzensprung von Köln entfernt, in Düsseldorf, gestartet wurde.

Gänsehaut beim Prolog

Klarheit herrscht dann erst zwei Wochen vor dem Prolog am 1. Juli. Politt hat es geschafft, er ist einer von neun Fahrern im Team „Katusha Alpecin“. Beim Auftakt in der Landeshauptstadt sorgen Tausende begeisterte Zuschauer am Streckenrand für eine einzigartige Atmosphäre. „So viele Leute waren da, trotz beschissenem Wetter. Die standen vom Start in Düsseldorf bis raus nach Ratingen. So viele Menschen – da kriege ich jetzt noch Gänsehaut“, erzählt der mit 1,92 Meter für einen Radprofi groß gewachsene Politt.

Die 14 Kilometer am ersten Tag sind allerdings, verglichen mit dem, was danach kommt, eine leichte Übung. Circa 200 Kilometer pro Etappe verbringen die Fahrer in den Folgetagen im Sattel, in der ersten Woche auf flacher Strecke, wo sich die Sprinter in Szene setzen können. Damit sie am Ende eines langen Tages um den Etappensieg sprinten können, sind sie vorher auf die Hilfe ihrer Teamkollegen angewiesen. Sie stehen im Schatten der großen Stars, sind für diese aber auch unverzichtbar. Den besten Sprinter im Team in eine gute Position zu bringen, das gehört auch für Nils Politt zu seinen wichtigsten Aufgaben. Wer bei der Tour im sogenannten „Lead-out-Train“, dem Sprintzug, vorne mit dabei sein will, braucht neben hervorragender Form auch starke Nerven.

„Bei anderen Rundfahrten sortieren sich die Sprintzüge etwa zehn bis 15 Kilometer vor dem Ziel. Bei der Tour beginnt der Kampf um die beste Position schon 30, 40 Kilometer vor dem Ziel“, so der Kölner. Gekämpft wird bei Tempo 70 auf den letzten hundert Metern mit allen Bandagen. „Das sind die besten Fahrer der Welt, und zwar alle in Topform. Somit geht es bedeutend schneller zu, außerdem viel, viel hektischer als bei anderen Rennen“, schildert Politt den Drahtseilakt, bei allem sportlichen Ehrgeiz keinen Sturz zu riskieren.

„Körperkontakt gehört im Sprintzug dazu. Es geht um jeden Millimeter. Bloß nicht das Hinterrad des Vordermanns verlieren! Um durch Lücken durchzukommen, muss man auch schon mal ein bisschen den Ellenbogen oder die Schulter ausfahren“, so der Kölner über den ganz normalen Wahnsinn vor der Etappenankunft.

Über Berge und Kopfsteinpflaster

Er selbst gilt als Allrounder, der neben Qualitäten im Zeitfahren und im Sprintzug auch bei Ausreißversuchen seine Stärken ausspielen kann. Bei der kommenden „Grande Boucle“ („Große Schleife“), wie die Tour in Frankreich auch genannt wird, entspricht vor allem die neunte Etappe von Arras nach Roubaix ganz seinem Geschmack, denn auf ihr gibt es viele Kopfsteinpflasterpassagen. Auf den sogenannten Pavés sind schon so manche Titelträume geplatzt. Weil Materialschäden und Stürze auf dem holprigen Untergrund zur Tagesordnung gehören, sind die Kopfsteinplasterabschnitte bei vielen Fahrern gefürchtet.

Politt hingegen mag die Herausforderung: „Mir machen diese Etappen Spaß!“ Ganz anders sehen das die Pedaleure, die um den Toursieg mitfahren. „Denen machen die Bergetappen Spaß, das kann ich jetzt nicht unbedingt für mich behaupten“ schmunzelt Politt. In der zweiten Woche wird es traditionell hügeliger bei der Tour. Des einen Freud, des anderen Leid: Während die Sprinter im sogenannten Gruppetto, der letzten Gruppe des Fahrerfeldes, nur darum kämpfen, vor dem Besenwagen anzukommen, machen die Topfavoriten auf den Bergetappen meistens den Gesamtsieg unter sich aus.

Zum Favoritenkreis gehört Politt nicht, aber bei den Bergetappen nicht ganz vorne mitzumischen, hat auch Vorteile, wie der 24-Jährige erläutert: „Wenn die hinteren Gruppen vorbeifahren, stehen die Fans nicht mehr so dicht gedrängt bis mitten auf die Straße, dann kommt man problemlos den Berg hoch“, sagt der Radprofi grinsend.

Nils Politt

Am Limit: Vor allem die Bergetappen ­verlangen den ­Fahrern alles ab (Foto: imago/Sirotti)

9.000 Kalorien – pro Tag!

Ist der letzte Berg erklommen, steht für ihn und die Kollegen nur noch eines im Vordergrund: Regeneration. Die Abläufe nach den Etappen sind immer gleich. Vom Fahrrad runter, geht es sofort in den Teambus, wo die Profis direkt duschen. Anschließend bricht die Mannschaft zum Hotel auf: Vor dem Essen ist noch Massage angesagt. Nach dem Abendessen bleibt noch ein wenig Zeit für Ablenkung: die Beine hochlegen, einen Film schauen, schlafen. Die Abende nach einer Tour-de-France-Etappe sind kurz.

Ähnlich unspektakulär laufen auch die wenigen Ruhetage ab, an denen die Fahrer für „nur“ anderthalb Stunden auf ihre Arbeitsgeräte steigen und ansonsten mit Regenerieren beschäftigt sind. „Immerhin kann man mal ausschlafen“, nennt Politt einen der wesentlichsten Vorzüge des Ruhetages. Ansonsten nämlich klingelt mindestens drei Stunden vor dem Rennstart der Wecker. 150 g Müsli, eine Banane, 150 g Pasta, ein Schokoladen-Croissant, eine Tasse Kaffee, 0,3 l Sojamilch, 200 g Obst, 0,3 l Orangensaft – das Frühstück der Radprofis entspricht einer kompletten Tagesration für Otto Normalverbraucher.

Es folgt eine circa anderthalbstündige Taktikbesprechung mit dem Team, manchmal wird diese auch auf dem Transfer zum Etappenstart abgehalten. Bevor es in den Sattel geht, nehmen die Fahrer noch mal einen kleinen Imbiss zu sich. Um die 9.000 Kalorien schaufeln die Profis täglich in sich hinein, das entspricht etwa dem vierfachen Tagesbedarf eines normalen Erwachsenen. Bloß keinen Hungerast riskieren! Doch gefeit ist niemand. „Es passiert vielen Fahrern, dass sie irgendwann im Laufe der Tour den sogenannten ‚Hölle-Tag‘ erwischen, dann geht gar nichts mehr. Die Beine machen zu, jeder Kilometer ist brutal schwer. Es ist dann schon eine richtige Qual, eine solche Etappe zu überstehen“, erzählt Politt, der bei seiner ersten Tour-Teilnahme selbst keinen „Hölle-Tag“ erleiden musste.

Emotionen am Zielpunkt

Nach gut drei Wochen neigt sich das Martyrium dem Ende zu, die letzte Etappe bestreiten die Athleten bis zur Ankunft auf den Champs-Élysées traditionell im „Feierabend“-Modus. Die Trikot-Träger stoßen auf dem Rad bereits auf ihre Erfolge an, und auch weiter hinten im Feld ist die Stimmung gelöst. „Jeder ist glücklich, dass er in Paris angekommen ist. Man bespricht noch einmal, was in den drei zurückliegenden Wochen so passiert ist. Fahrer, die sich in den Haaren lagen, lachen nun zusammen darüber. Man erzählt sich gegenseitig, wo man dieses Jahr besonders gelitten hat oder was im Team so los war“, schildert Politt den Austausch von Profi zu Profi.

Die erste Schleife auf der 70 Meter breiten und 1.910 Meter langen Prachtstraße gehört für das gesamte Fahrerfeld zu den schönsten Augenblicken der ganzen Rundfahrt. „Wenn man auf die Champs-Élysées einbiegt und weiß, es sind alle da – Freunde, Familie, tausende Zuschauer –, das ist ein unglaublich schöner und emotionaler Moment“, sagt Nils Politt. So schön, dass er die Qualen und Aufopferungen der Wochen und Monate zuvor vergessen macht. Und gleichzeitig Ansporn genug für den Kölner, in diesem Jahr die Tortur erneut auf sich zu nehmen.

Die Chancen auf eine Nominierung stehen sehr gut. Nach 2017, dem Jahr seines Durchbruchs, ließ Politt als bester Deutscher im Frühjahr 2018 sowohl bei der Flandern-Rundfahrt als auch beim „Paris–Roubaix“ aufhorchen. Seine Vielseitigkeit macht ihn als Helfer für die Stars im Team Katusha Alpecin, Marcel Kittel und Ilnur Zakarin, unverzichtbar. Vor der Tour steht allerdings erst mal ein Heimspiel an: Am 10. Juni tritt Politt zum vierten Mal in seiner Karriere beim „Rund um Köln“ in die Pedale.

Dort stand der ehrgeizige Zeitfahrspezialist zuletzt 2015 am Start. Damals noch als Fahrer der drittrangigen Rennkategorie „UCI Continental“. Ein Beweis für die rasante Entwicklung, die Politt genommen hat. „Ich bin sehr zufrieden, habe mein Hobby zum Beruf machen können. Damit ist wirklich ein Traum für mich in Erfüllung gegangen“, sagt der 24-Jährige. Geht sein Karriereweg weiter so steil bergauf wie bisher, könnten für den Kölner noch größere Träume wahr werden.