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Köln.Sport

Das Hector-Prinzip

Als wichtiger Baustein im Plan „Titelverteidigung“ von Joachim Löw reist Jonas Hector zur WM nach Russland – um danach mit dem 1. FC Köln in die 2. Liga zu gehen. Erstaunlich für viele, normal für Jonas Hector. Köln.Sport zeigt den Menschen Hector, der eine bemerkenswerte Entscheidung getroffen hat.
Jonas Hector

Jonas Hector hat mittlerweile einen Marktwert von knapp 20 Millionen Euro (Foto: imago/Xinhua)

Montag, 23. April 2018, kurz nach 13 Uhr. Gut 17 Stunden sind seit der Wasserschlacht des 1. FC Köln im Heimspiel gegen den FC Schalke 04 vergangen, da erreicht eine Pressemitteilung der „Geißböcke“ die Redaktionen der lokalen Sportmedien. Ihr Inhalt: ein Paukenschlag! Nicht nur, weil die Information recht überraschend kommt – auch deshalb, weil der Vorgang an sich in höchstem Maße bemerkenswert ist. „Jonas Hector wird dem FC weiterhin erhalten bleiben“, steht da, sinngemäß.

Statt sich – wie in den Tagen zuvor spekuliert – mit einem Wechsel zum Topverein Borussia Dortmund dem sportlichen Abstieg in die 2. Bundesliga zu entziehen, bleibt der Linksverteidiger an Bord. „Es wäre problemlos möglich gewesen, nach dieser Saison zu einem anderen Verein zu wechseln, aber für mich fühlte sich das nicht richtig an. Wir haben viele Gespräche in den letzten Wochen geführt und ich habe mir viele Gedanken gemacht. Das Ergebnis ist für mich eindeutig: Ich gehöre zum FC und will mit dem Team und unseren Fans im Rücken in der neuen Saison wieder voll angreifen“, wird Hector zitiert.

Es ist ein Schritt, den in Fußball-Deutschland nicht jeder versteht. Denn Hector ist Nationalspieler, wird von einigen Topklubs umworben, als spielstarker Linksverteidiger ist er darüber hinaus Teil einer Fußballer-Spezies, die nicht gerade die ganze Welt bevölkert. Zudem wäre seine angeblich festgeschriebene Ablösesumme von sieben bis acht Millionen Euro ein Witz für die Topklubs gewesen. Kurzum: In die 2. Liga zu gehen, hätte ein Spieler seines Kalibers beileibe nicht nötig.

Umso bemerkenswerter, dass sich der Nationalspieler, der auch bei der WM 2018 in Russland wieder zu den deutschen Stützen gehören soll, genau dazu entschieden hat. Was hat den 28-Jährigen zu diesem Schritt bewogen? „Der 1. FC Köln hat mir den Weg von der Regionalliga bis in die Nationalmannschaft ermöglicht. Ich bin diesem Club sehr verbunden und dankbar und fühle mich in Köln sehr wohl“, heißt es in der Pressemitteilung. Typisch Vereins-PR irgendwie – hört sich großartig an. Doch „sich wohlfühlen“ und „mit in die 2. Liga gehen“ sind im professionellen Fußball keineswegs das Gleiche. Die Frage bleibt also: Warum ist Jonas Hector geblieben und hat, statt Abschied zu nehmen, seinen Vertrag sogar bis 2023 zu verlängern?

Selbst verwundert

Einen Teil der Antwort brachten schon die Tage nach der offiziellen Verkündung seines Bleibens ans Licht. Denn dass seine Entscheidung eine derartige Welle der Sympathie auslösen würde – inklusive eines eigenen Hashtags für ihn und die Kollegen Höger, Risse und Horn (#durchetfüer) –, damit hatte der 36-fache Nationalspieler in seiner zurückhaltenden Art, die so wenig ins Konstrukt der Bundesliga zu passen scheint, nicht gerechnet. Innerhalb weniger Stunden war er von einem der Schuldigen am Abstieg des „Effzeh“ quasi zu einer Vereinslegende geworden, die sich ihr Denkmal selbst errichtet hat.

Eine Art von Rampenlicht, die Hector fremd ist. „Ich glaube, es war eine Entscheidung, die viele an meiner Stelle nicht so getroffen hätten und die viele Leute überrascht hat. Dass sie in der Öffentlichkeit so eine große Rolle spielen würde, hätte ich allerdings nicht gedacht“, erklärt er.

Tatsächlich spielt der Faktor „Dankbarkeit“ in Hectors Gedanken eine entscheidende Rolle. Seit er 2010 von seinem Heimatverein SV Auersmacher ans Geißbockheim wechselte, wurde seine Entwicklung quasi zum modernen Fußballmärchen. Hector, der nie ein Nachwuchsleistungszentrum besucht hatte, spielte mit 20 Jahren noch in der Oberliga. Auch in der Reserve des FC war er zunächst nur ein Mitläufer.

2012 kommt er zu den Profis, wird zum Stammspieler, zum Leistungsträger, am 14. November 2014 (4:0 vs. Gibraltar) sogar zum Nationalspieler. Natürlich weil er sich als Spieler unheimlich stark entwickelt hatte, klar. Aber auch, weil man in Köln auf ihn setzte. Dass „JH14“ dem Verein viel zu verdanken hat, steht außer Frage, auch wenn dieser Umstand nur in den seltensten Fällen zu einer Entscheidung wie der führt, die die FC-Fans am 23. April zu hören bekamen. Doch für Hector ist klar: Alles, was ihm der FC ermöglicht hat, will er jetzt mit Treue zurückzahlen.

Vereinstreue im Blut

Beim SV Auersmacher, wo Hector vor dem Wechsel nach Köln sein gesamtes Fußballerleben verbrachte, waren seine ehemaligen Weggefährten wenig überrascht. Im Gegenteil: Dass Vereinstreue tief in Hectors DNA verankert ist, wissen sie dort schon lange. Denn eigentlich hatte der talentierte Linksfuß nie geplant, die 2.600-Seelen-Gemeinde für Fußball zu verlassen. „Er ist sehr heimatverbunden. Ein Wechsel kam für ihn nie infrage“, erinnert sich Vorstandsmitglied Nils Mitrenga an die Zeit, als die TSG Hoffenheim, der VfL Bochum oder der VfB Stuttgart beim Provinzklub anklopften, Hector sie aber abblitzen ließ.

Beim FC Bayern war er 2009 mal im Probetraining für die zweite Mannschaft, wollte aber lieber mit seinen Freunden in der Oberliga spielen, in die man gerade aufgestiegen war. „Die Einstellung, nicht gleich das erstbeste Angebot anzunehmen, hat er sich bis heute erhalten. Er geht wohlüberlegt vor“, sagt André Hemmer, ebenfalls Vorstandsmitglied des SV Auersmacher. Seit der F-Jugend hatte Hector für den SVA gespielt, nie ein anderes Trikot getragen.

Jonas Hector

In der abgelaufenen Saison stand Hector in 20 Bundesligaspielen für den FC auf dem Platz (Foto: Getty Images)

Auch seine Familie ist noch heute tief verwurzelt im Verein: Sein Bruder Lucas (29) spielt in der ersten Mannschaft, hat in dieser Saison 18 Tore in 33 Spielen in der Saarland-Liga gemacht und ist ebenfalls Teil des Vorstands. Auch sein Vater Erhard und seine Mutter Monika engagieren sich im Verein. Ein Familienidyll, aus dem Jonas nicht rauswollte. Den Wechsel nach Köln ein Jahr später vollzieht er dennoch – unter Bedingungen. „Ich hatte ein gutes Gefühl. Vertrauen in die Leute und die geringe Entfernung zur Heimat spielten natürlich auch eine Rolle“, erinnert er sich.

Die Entscheidung fällt ihm leichter, weil er sich in Köln zunächst eine Wohnung mit einem Freund teilt – ein Glücksfall für den FC, der das Leben des heutigen DFB-Linksverteidigers nachhaltig veränderte. Eines jedoch änderte sich nie: Jonas Hector. „Er ist ganz normal geblieben, hat sich nicht verändert“, sagt Mitrenga. Und genau so ist es. In Sachen Identifikation mit dem Klub hat sich Hector mit seiner Entscheidung in die Nähe von Lukas Podolski gebracht, der 2004 ebenfalls als Nationalspieler mit in die 2. Liga ging und mit 21 Toren und neun Assists großen Anteil am direkten Wiederaufstieg des „Effzeh“ hatte.

Mission Wiederaufstieg

Doch Hector ist nicht Podolski: Während der „Prinz“ um die Welt jettet, um seine neue Eisdiele einzuweihen, mag es Hector lieber eine Nummer kleiner. In den Medien wird der Linksfuß oft mit dem Prüfsiegel „Der andere Profi“ belegt. Er absolviert neben seiner Profikarriere ein Betriebswirtschaftsstudium an der Fern-Universität Oldenburg, ein Studiengang „speziell angelegt für Leistungssportler“, wie er sagt. Sich selbst geistig zu unterfordern, wie viele andere Fußballer es tun, kommt für Hector nicht infrage. Er liest Bücher, bildet sich weiter, beschäftigt sich schon mit der Zeit nach der Laufbahn.

Weil er für viele aussieht wie ein typischer Student (und sich wohl zeitweise auch so verhält), bekommt er in Köln den Spitznamen „Schlaubi“, wie der Schlumpf, der auf alles eine schlaue Antwort hat. Aus den sozialen Medien hält sich Hector ebenso raus wie aus dem Fußballer-typischen Überbietungswettbewerb in Sachen Autos, Klamotten oder sonstigen Äußerlichkeiten. „Ich empfinde mich im Vergleich zu meinen Teamkollegen nicht als anders und würde mich ihnen gegenüber weder ab- noch aufwerten wollen“, sagt Hector, wenn man ihn auf dieses Thema anspricht.

So komisch das klingt: Auch „normal“ zu sein, ist für ihn, ja, normal. „Jonas ist sehr unaufgeregt und entspannt. Jemand, der nicht das Rampenlicht sucht“, so Hemmer. Selbst die Willkommensfeier in der alten Heimat nach der EM 2016, bei der Hector im Viertelfinale gegen Italien den entscheidenden Elfmeter versenkte, musste im kleinen Rahmen stattfinden, alles andere wäre Jonas Hector unangenehm gewesen. Sportlich dagegen hat der 28-Jährige die meisten seiner Teamkollegen längst überholt. Das heißt allerdings nicht, dass die große, weite Welt der Bundesliga für den gebürtigen Saarländer normal geworden ist.

„Ich bin mittlerweile fast sieben Jahre weg von meiner Heimat, und doch gibt es immer noch diese ganz besonderen Momente für mich. Zum Beispiel, wenn ich erneut zur Nationalmannschaft eingeladen werde, oder dieser Augenblick, wenn man vor einem Heimspiel das erste Mal den Rasen betritt. Ich bin nach wie vor sehr dankbar, dass ich das Woche für Woche erleben darf, und es gibt immer wieder auch noch Neues zu erleben.“ Bemerkenswerte Aussagen nach 118 Bundesliga- und 36 Länderspielen.

„Jonas ist ein außergewöhnlicher Spieler und ein außergewöhnlicher Mensch, wie es sie im heutigen Profifußball selten gibt. Dass er als aktueller deutscher Nationalspieler den Weg mit uns weitergeht, unterstreicht dies eindrucksvoll“, sagt FC-Geschäftsführer Armin Veh, der rund um Hector das neue Team für die 2. Liga plant. Wenn das Thema abgeschlossen ist, wird sich Jonas Hector (hoffentlich für alle deutschen Fußballfans) noch bei der WM in Russland befinden. Nach kurzem Urlaub geht es dann zurück ans Geißbockheim – wahrscheinlich sogar wieder früher als zum vereinbarten Termin, wie es schon einmal passiert ist.

Gemeinsam mit Timo Horn und den anderen Teamkollegen, die seinem Vorbild gefolgt sind, macht sich Hector dann auf die Mission „Wiederaufstieg“. Die ist in der 2. Bundesliga auch 2018/19 kein Selbstläufer, das steht fest. Allerdings: Übertragen sich der Charakter und die Arbeitseinstellung von Hector auf das gesamte Team, kann die Presseabteilung zum Thema „FC-Aufstieg 2019“ schon mal einen Text aufsetzen.