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Köln.Sport

Cinderella Man

Nach einem heißen Tag steht die Abendhitze im Sportstudio ­Baaden förmlich. Im Hinterhof einer Wohnsiedlung im Kölner Süden gelegen, wird das traditionsreiche Kampfsport- und Fitness-Gym bereits in der zweiten Generation von Ex-Kickbox-Euro­pameister René Baaden geführt.
Charr

Manuel Charr beim Training im „Sportstudio Baaden“ (Foto: Daniel Elke)

Als Köln.Sport den Eingangsbereich des Sportstudios passiert, ist Manuel Charr schon da und telefoniert. Der Kölner Boxprofi trainiert bereits seit Jahren in dem Gym an der Bonner Straße, es ist sozusagen seine Homebase, wenn er sich auf einen Kampf vorbereitet. Am 29. September klettert der reguläre Schwergewichts-Champion des Verbandes WBA wieder in den Ring, um seinen WM-Titel in der Kölner Lanxess-Arena gegen Fres Oquendo (USA) zu verteidigen.

Bei der heutigen Trainingseinheit im Gym genießt Charr familiäre Unterstützung, und zwar von seinem Neffen Ahmed. „Statt in den Urlaub zu fahren, wollte er in den Schulferien lieber mit seinem Onkel trainieren. Diese Chance gebe ich ihm – Ahmed wird erfahren, wie das Profiboxen so ist“, erzählt der „Diamond Boy“. Im Februar bestritt der 16-jährige Schüler aus Gelsenkirchen seinen ersten Boxkampf überhaupt. Da sich für den Junior kein Gegner in seiner Gewichtsklasse fand, trat Ahmed im Schwergewicht an – und besiegte einen 2,02 Meter großen und zwei Jahre älteren Boxer. „Er hat Talent und Kampfgeist“, lobt ­Manuel Charr. „Wenn es ihm gefällt und er den Wunsch hat, Profi zu werden, werde ich ihn unterstützen und mit siebzehn auf einem Sportinternat anmelden. Damit wäre dann auch die Zukunft der Familie Charr im Schwergewicht gesichert“, lächelt der Champ.

Manuel und Ahmed steigen auf den Crosstrainer, powern eine halbe Stunde lang. Dabei erzählt der Boxprofi von seiner Reise nach Rom, die er kürzlich gemacht hat. Ziel war es, Energie für die kommenden Aufgaben im Ring zu tanken. Auf den Trip in die Stadt der Gladiatoren begleitete ihn sein Kumpel, der MMA-Fighter Christian Eckerlin. „Ich musste dorthin, wo meine Wurzeln sind. Wo Kämpfer wie wir geboren wurden.“ Dann stand der „Koloss von Köln“ mitten im Kolosseum und war tief beeindruckt. „Für uns ist das ein spiritueller Ort“, erklärt er.

„Das Ding gerockt“

Auch die Lanxess-Arena, der Schauplatz seines nächsten Kampfes, ist für Charr ein besonderer Ort. „Es ist mein Heimspiel und ich will das Publikum unterhalten. Ich werde jedenfalls mein Bestes geben“, verspricht er. Für das Duell mit „Fast Fres“ Oquendo hofft der Schwergewichts-Weltmeister jedenfalls auf eine gut gefüllte Halle, die über 18.000 Sitzplätze verfügt. Ursprünglich sollte der Fight bereits im Mai in Chicago stattfinden, nachdem Oquendos Team diesen von der WBA ersteigert hatte. Doch dann konnte das Management des gebürtigen Puerto Ricaners die Summe von 600.000 Dollar nicht aufbringen.

„Dieser Kampf wäre meine Eintrittskarte nach Amerika gewesen“, sagt Charr. Daraufhin habe sein Promoter Bernd Trendelkamp direkt mit Oquendo verhandelt „und das Ding gerockt“. Nach langen und harten Verhandlungen holte das Charr-Team den Kampf nach Köln. Schließlich gab auch Charrs Manager und Investor Christian Jäger sein Okay. Und als Arena-Geschäftsführer Stefan Löcher den 29. September als Termin in Köln anbieten konnte, habe alles „perfekt gepasst“.

Never give up – gib niemals auf. Und: From the Street to the Stars – von der Straße zu den Sternen. Wie ein Mantra bringt der „Diamond Boy“ diese Sätze immer wieder, vor allem auf seinen Social-Media-Kanälen sind sie allgegenwärtig. In der Tat klingt seine Geschichte wie eine moderne Version von Aschenputtel: Einst dem Bürgerkrieg im Libanon entflohen, schlägt sich das Flüchtlingskind mit seiner Familie in Deutschland durch. Die Bedingungen sind hart und Konflikte, auch mit dem Gesetz, bleiben ständige Begleiter. Charr startet 2005 seine Karriere als Profiboxer, doch den Deutsch-Syrer ereilen immer wieder Rückschläge. Wie im September 2015, als er in einem Essener Imbiss niedergeschossen und schwer verletzt wird. Knapp zwei Jahre später, im Mai 2017, wird Charr wegen einer Hüftdysplasie operiert und erhält zwei künstliche Gelenke. Nur ein halbes Jahr später steht der Schwergewichtler bereits wieder im Ring. Gegen Alexander Ustinov gewinnt er den regulären WM-Titel der WBA. Von der Straße zu den Sternen. Manuel Charr, das männliche Aschen­puttel. Der „Cinderella Man“.

Charr kündigt K.O. an

Der Kölner Schwergewichtler hat mittlerweile den Ring im Gym eingenommen, übt sich im Schattenboxen. Dann holt er seinen Neffen Ahmed dazu. Gemeinsam simulieren sie Kampfsituationen, in einer Art Bewegungsboxen. Der Senior gibt dem Youngster dabei einige Tipps. Nach vier Runden à drei Minuten ist Schluss.

Und was erwartet Charr von seinem baldigen Gegner, Fres Oquendo? „Ich habe Respekt vor seinem Ehrgeiz, in diesem Alter noch einmal diesen Mut zu haben“, sagt er über seinen 45-jährigen Herausforderer. Charr merkt an, dass die Niederlagen des Ring-Veteranen immer äußerst knapp gewesen seien – „oder es waren Geschenke an die jeweils favorisierten Gegner“.

Dennoch hat der „Koloss von Köln“ in den sozialen Netzwerken vollmundig einen Knockout angekündigt. „Ich habe einen 130-Kilo-Mann, der vorher nie k.o. gegangen ist, mit einem linken Haken zum Kopf zu Boden geschickt“, verweist er auf seinen letzten Fight. „Ich war mein ganzes Leben lang wie ein Pfeil ohne Bogen. Mit meinen zwei neuen Hüften bin ich jetzt ein Pfeil mit Bogen“, sprudelt es aus ihm heraus. „Wenn ich am Sandsack arbeite und meine Hüfte einsetze, merke ich, wie sich meine Schlagkraft verbessert hat. Ich bin damit sozusagen ein ganz anderer Manuel Charr. Und das hat Ustinov als Erster zu ­spüren bekommen.“

Die kölschen Boxfans freuen sich auf die erste Box-WM in der Lanxess-Arena seit rund sechs Jahren. Übt das einen zusätzlichen Druck auf Charr aus? „Überhaupt nicht“, sagt er. Und verweist auf seinen Status als Kölner Boxer und Weltmeister, der 2017 auch noch zu „Kölns Sportler des Jahres“ gewählt wurde. „Wer außer mir hat das schon geschafft?“, fragt er lächelnd. Deswegen ist er auch sicher, als „Local Hero“ die Arena bei seinem WM-Kampf füllen zu können. „Köln ist meine Heimat“, betont Charr. „Meine Heimat supportet mich, und ebenso unterstütze ich meine Heimat.“ Einen Titel als kölscher Sportheld hat er ebenfalls parat. Köln habe ja bereits einen „Prinz Poldi“. Bald gebe es in der Stadt dann auch einen „Prinz Charr“.

Doch er will nichts dem Zufall überlassen, und dafür arbeitet der 33-Jährige hart. In der Aufbauphase standen Fitness- und Ausdauertraining auf dem Programm. „Dreimal pro Woche Kraft- sowie dreimal pro Woche Lauftraining, dazu sonntags Schwimmen“, erklärt er. In den letzten zehn Wochen bis zum Kampf steigert er das Laufen, trainiert dazu in Intervallen. „Ich laufe am Rhein, denn ich bin ein Wassermensch.“ Der Kölner Rheinauhaufen, wo Charr auch wohnt, ist für ihn wie eine Insel mitten in der Stadt. Dort findet er die nötige Ruhe, wenn er frühmorgens laufen geht. „Wenn ich dann neben dem Wasser unterwegs bin, spüre ich seine Kraft in mir. Eine Kraft, die man nicht aufhalten kann“, sagt der Champ.

Das boxspezifische Training absolviert Charr quasi im Wechsel. Vier Wochen lang arbeitet er zunächst in Köln mit Coach Roberto Barreiro, der auch in der Ultimate Fighting Championship (UFC) trainiert. Für die letzten sechs Wochen der Vorbereitung geht es dann ins Düsseldorfer UFD Gym, wo der Schwergewichtler mit seinem Chefcoach Sükrü Aksu schuftet. „Er ist ein ruhiger Typ, wirkt gut auf mich ein und findet die richtige Ansprache“, verrät Charr. „Sükrü kann mich gut führen, auch im Ring. Ich brauche eine ruhige Seele wie ihn, weil ich selber temperamentvoll bin wie Feuer.“

Kampf gegen Klitschko?

Was nach dem Oquendo-Kampf kommt, wenn er gewinnt? Deutsche Profis üben aktuell auf den Kölner keinen Reiz aus: „Damit lässt sich einfach nicht genug Geld verdienen. Schließlich bin ich Geschäftsmann und muss auch daran denken.“ Ein lukrativer Name fällt ihm dann doch ein: „Wenn Wladimir Klitschko sein Comeback machen möchte, kann er mich gerne herausfordern. Und ich überlege mir dann, ob ich den Kampf annehmen werde.“ Zu einem Duell mit dem von der WBA übergeordneten „Super“-Champ Anthony Joshua („Ich habe riesigen Respekt vor ihm, er ist ein Ausnahme-Athlet mit einer tollen Ausstrahlung“) würde der „Regular“-Champ grundsätzlich nicht Nein sagen. Aber es muss nicht sein übernächster Fight werden, da hat er keine Eile.

Bleibt noch offen, ob sich Manuel Charr – sofern er siegreich ist am 29. September – tatsächlich Deutschlands einziger Profibox-Weltmeister nennen darf. Der Berliner Tyron Zeuge hat seinen WM-Titel Mitte Juli zwar verloren. Aber bis zum Kampftag müsste Charr einen deutschen Pass vorlegen, den er bislang noch nicht besitzt.

Im Herzen deutsch

Ein Thema, das den Kölner Schwergewichtler allerdings ziemlich nervt. Statt um ein Stück Papier gehe es ihm vielmehr um das, was er im Herzen fühle – und das sei deutsch. „Ich bin hier aufgewachsen und kann mich bei keinem anderen Volk bedanken. Die Menschen auf der Straße akzeptieren mich, ganz besonders hier in Köln, und sagen: ,Manuel, du bist unser deutscher Weltmeister.‘ Sie akzeptieren mich, auch weil sie wissen, dass ich viel für die Integration geleistet habe.“ Weil er diesen Pass bislang nicht besitzt, habe er nicht einen einzigen Fan verloren. „Ich wurde immer als deutscher Boxer akzeptiert“, betont der „Diamond Boy“. „Doch als ich Weltmeister wurde und die Korken knallten, kamen auf einmal diese Diskussionen auf.“

Womöglich war es ein Fehler von Charr, sich öffentlich als Nachfolger der deutschen Schwergewichts-Legende Max Schmeling feiern zu lassen. Doch eines ist ihm trotz aller Diskussionen wichtig: „Für mich ist es der Grund, warum wir Deutschen im Boxen nie wirklich nach vorne kommen werden. Wir treten uns lieber in den Arsch, anstatt uns gegenseitig zu pushen.“

Davon allerdings lässt sich der „Koloss von Köln“ nicht irritieren. Wenn er zu Hause auf seinem Crosstrainer sitzt, blickt er dabei auf den Dom und in die Ferne. „Dann gebe ich Vollgas und sehe die Lanxess-Arena. Darauf liegt mein Fokus, das ist mein Ziel.“#